SIMPLE LIFE

VORAB

 

Ganz oft schon wurde ich von Mitmusikern und Freunden gefragt, warum ich nicht einmal aufschreibe, was ich in 40 Jahren als reisender Musiker so alles erlebt habe. "Wen interessiert das?", war genauso oft meine Gegenfrage. Wahrscheinlich niemanden.  Ich führe ein einfaches Leben, "A Simple Life". Ich brauche kein großes Besteck, kein Chichi, keine teuren Hotels (okay, manchmal ist es doch fein, in einem zu wohnen, aber es geht auch bescheiden), ich brauche keine Preise und keine Orden, und ich muss auch nicht ins Fernsehen. Ich mag weder eitles Getue noch das ganze Theater, das "Künstler" so gerne machen. Selbstbespiegelung liegt mir nicht. Ich möchte einfach Akkordeon spielen und Musik produzieren, und wenn das noch jemand außer mir mag, dann ist das ein Geschenk, das ich dankbar annehme. Solcherlei Geschenke sind mir zuhauf in all den Jahren zuteil geworden. Danke, liebes Publikum!

 

Und mein herzlicher Dank git auch dem großartigen Kieran Halpin, für den berührenden Titel "Simple Life" auf seiner neuesten CD "Doll", die zu produzieren ich das Vergnügen hatte. Das Lied spricht mir aus der Seele und hat mich zu diesem Kapitel inspiriert.

 

Update :

 

Kieran ist im Oktober 2020 gestorben, weder mit noch an Corona, aber an den Auswirkungen der Pandemie. Wenn ein Künstler, der 250 Gigs im Jahr spielt, plötzlich auf Null gesetzt wird, dann muß er binnen Kurzem aus seiner Wohnung raus, verliert Rücklagen, Perspektive und Hoffnung. Und sein Wunsch auf dem Titel "Simple Life", nämlich "I don't want to die alone", ist nicht in Erfüllung gegangen. Einige seiner Freunde und ich haben's versucht, aber Kieran war nicht zu retten. Welch ein Verlust.

 

Trotzdem: Ich werde nicht jünger, ich schaue auch mal zurück und bemerke, welch ein Ozean von Erlebnissen bereits hinter mir liegt. Und wer weiß, vielleicht kann ich ja doch etwas weitergeben, und sei es nur die eine oder andere Einstellung zu den Dingen. Also habe ich mich quasi selbst breitgeschlagen und mit dem Aufschreiben begonnen. Mir fiel dabei auf, wie leicht mir das Musizieren fällt, im Gegensatz zum Schreiben.
 

Nun bin ich Musiker und kein Schriftsteller, es ist also keine Schande, um Hilfe zu bitten. Ich redete darüber mit Bernd Büttgens, einem befreundeten Journalisten, und er fand die Idee verfolgenswert. Also haben wir uns getroffen und darüber gebrütet, wie man ein solches Projekt aufstellen kann. Er hatte die kluge Eingebung, es als Multimediaprojekt zu gestalten. So wird man also auf den folgenden Seiten neben Texten, in denen ich schreibe, wie mir meine Tippfinger gewachsen sind, auch Bilder, Videos und Musik finden, jeweils per Link anwählbar. Bernd hat ein waches und aufmerksames Auge darauf. Danke, Bernd!

 

Den Anfang machen drei Kapitel. Die ersten beiden erzählen von Erlebnissen im Nahen Osten. Vornehmlich Beirut, Damaskus und Ramallah. Orte, die mich geprägt und über den Tag hinaus verändert haben. Dieser Teil der Welt bewegt und berührt mich, seit ich reise. Und ich reise seit 1978.  Er bewegt mich mit all seinen Dramen und dem Schrecklichen, das dort passiert. Aber ich bin ebenso bewegt von der Freundlichkeit, dem Respekt und der Liebe, die ich dort erfahren durfte. Die kleinen Geschichten sind fragmentarisch, es ist in Wirklichkeit viel mehr passiert, als ich aufzuschreiben vermag. Aber vielleicht entsteht so doch ein Eindruck. Ein drittes Kapitel erzählt von meinem Instrument, dem Akkordeon.

 

Die Geschichten springen manchmal in der zeitlichen Abfolge. Das liegt einfach daran, daß ich es vorgezogen habe, sie eher räumlich und nach Themen sortiert aufzuschreiben, als streng chronologisch. Es ist halt sehr viel parallel passiert: Der Musiker hat eine andere Geschichte als der Studiomensch, der Produzent eine andere als der Arrangeur. Und der Mensch hat eine noch ganz andere Geschichte. Obwohl sich diese Bereiche ständig überschneiden und ineinander greifen, fand ich es so herum besser. Vielleicht werde ich diesen Bericht ja nach und nach erweitern.
 
Ich wünsche allen viel Spaß beim Lesen, Schauen, Hören.

 

Manfred

 


Prolog

DIE MUSIK IST EIN SEGEN

Ich habe mich früh in sie verliebt. In ihre Sinnlichkeit, in ihre Seele und in ihren Körper. Aber in ihre Vergangenheit vor allem, wo man sich mit den ganzen anderen Verliebten im selben Kreis wähnte. Auch in das Ungefähre, das ich lange mit Bedeutung glaubte füllen zu müssen, ohne die Verpflichtung, dafür geradezustehen. Sie hat mich jung verführt, mich blind gemacht. Ich bin ihr verfallen.

Nun, die Zeiten ändern sich. Ich kann ihr längst nicht mehr unbefangen gegenübertreten. Zu Anfang war sie freundlich und tat verliebt. Sie schmeichelte mir, wiegte mich in der Sicherheit, einen Platz gefunden zu haben in dem Irrsinn, den man Leben nennt. In Wahrheit ließ sie mir jedoch nie eine Wahl und okkupierte mein Dasein wie eine Diktatorin, die nur ihre eigenen Interessen im Sinn hat und mich benutzt. Sie ängstigt mich, sie spielt mit mir statt ich mit ihr, schickt mir Träume, raubt mir den Schlaf, macht mich unfähig, normale Kontakte aufzunehmen.

Sie ließ mich überall hingehen und doch nirgends ankommen. Und eigenartig: Sie hat mir den unschuldigen Spaß an ihr selbst verdorben. Was anderen Menschen Licht bringt, macht mich eher dunkel. Ich kann sie nicht mehr gut ertragen, mag sie nicht mehr, außer in den Momenten, in denen ich selbst musiziere, brauche sie aber gleichwohl, weil ich nicht ohne sie kann. Und ich kann nichts außerhalb von ihr. Kein Plan B. Wie ich’s auch drehe und wende: Sie bewirkt immer,  daß ich am Ende allein dastehe.

Vielleicht ist die Musik wohl doch eher ein Fluch, den eine hinterhältige Fee an meiner Wiege für mich abgelegt hat?


Foto Mitte: Gina Faber,  re. + li: Gudrun Petersen                 Das Lächeln des Clowns                                                                                 Mit Bernd Büttgens

Mit Sebastian Pottmeier, Christoph Titz, Kinan Azmeh, Florian Zenker, Antoine Pütz, Steffen Thormählen, Afra Mussawisade, Ian Melrose, Dima Orsho